
Achtsamkeit: Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum
Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit: „bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen“ (Jon Kabat-Zinn). Achtsamkeit bedeutet, sich voll und ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und dabei Gedanken, Gefühle sowie Körperempfindungen wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu verdrängen. Stell dir vor, du trinkst deinen Morgenkaffee. Anstatt dabei an deinen vollen Terminkalender zu denken oder am Handy zu scrollen, erlebst du den Moment bewusst. Du riechst den Duft des Kaffees, spürst den warmen Becher in deinen Händen und nimmst den Geschmack des ersten Schlucks wahr. Du konzentrierst dich vollständig auf diese Erfahrung, ohne dich abzulenken, ohne zu werten.

Raus aus dem Autopilot-Modus
Warum ist Achtsamkeit eine wichtige Ressource für uns? Achtsamkeit hilft uns, nicht in den eigenen „Autopilot-Modus“ zu verfallen. Der Autopilot-Modus ist kein von uns abgekoppelter Zustand - auch wenn es sich oft so anfühlt - sondern ein automatisiertes Abbild unserer Denkmuster, Gewohnheiten und auch Sozialisierung. Im Autopilot-Modus reagieren wir direkt ohne noch einmal drüber nachzudenken. Wenn wir jedoch achtsam sind, können wir automatisierte Reaktionen unterbrechen und reflektieren, wie wir einen Reiz bewerten und wie wir auf ihn agieren möchten. Wir machen somit einen Schritt zurück bzw. springen nicht direkt in die Reaktion. Achtsamkeit gibt uns somit mehr Kontrolle über unsere automatisierten Reaktionen. Sie erweitert unseren Handlungsspielraum.

PS: Reize wirken oft blitzschnell auf uns ein und lösen unmittelbare Reaktionen aus. Das ist völlig normal und hilft uns, in vielen Situationen rasch zu handeln. Doch diese schnellen Reaktionen können unseren Handlungsspielraum auch einschränken.
Achtsamkeit erfordert Übung – und vor allem Geduld. Es ist ein wichtiger erster Schritt, die eigene Reaktion auf einen Reiz bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. Schon allein diese Achtsamkeit kann einen großen Unterschied machen.

Die Einsatzbereiche der Achtsamkeit
Die Grafik zeigt, wie wir ohne und mit Achtsamkeit agieren können:
In einer Situation löst ein innerer Reiz (z.B. Selbstzweifel) oder äußerer Reiz (z.B. E-Mail) oft blitzschnell Bewertungen, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen aus, die direkt zu einer Reaktion führen.

An beiden Stellen kann Achtsamkeit eingesetzt werden:
- Zwischen Reiz und Bewertung/Gedanken/Gefühlen/Körperempfindungen: Achtsamkeit hilft uns, den Reiz zuerst einmal bewusst und neutral wahrzunehmen, ohne sofort in die Bewertung zu gehen. So können wir klarer und objektiver darüber nachdenken, was wirklich passiert. Anstatt einen Reiz automatisch als gefährlich einzustufen, ermöglicht Achtsamkeit eine genauere Betrachtung und verhindert mögliche Fehlbewertungen.
- Zwischen Bewertung/Gedanken/Gefühlen/Körperempfindungen und Reaktion: Achtsamkeit ermöglicht es uns, unsere inneren Reaktionen zunächst zu beobachten, ohne ihnen sofort eine übermäßige Bedeutung beizumessen oder unmittelbar darauf zu reagieren. Dadurch entsteht eine Distanz zu unseren Reaktionen, wodurch wir mehr Handlungsspielraum haben und statt zu reagieren agieren können.
Dies wird anschaulicher anhand eines Beispiels:
Situation: Du bekommst eine E-Mail von deiner Führungskraft.
Schritt 1: Bewertung
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Ich nehmen den äußeren Reiz „E-Mail von Führungskraft“ wahr und bewerte ihn als bedrohlich. |
Ich nehme den äußeren Reiz der Mail wahr als das, was er ist: Text auf meinem Bildschirm von meiner Führungskraft verschickt. |
Schritt 2: Gedanken
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Katastrophisierende Gedanken wie „Oh nein, was möchte er*sie nur von mir? Habe ich was falsch gemacht?“ schießen in meinen Kopf und machen mir Angst. |
Ich bemerke, dass Gedanken wie „Oh nein, was möchte er*sie nur von mir? Habe ich etwas falsch gemacht?“ aufkommen. Statt mich in diesen Gedanken zu verlieren, beobachte ich sie nur: „Ich bemerke, wie diese Gedanken aufkommen, dennoch messe ich ihnen keine Bedeutung bei“. |
Schritt 3: Gefühle
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Gefühle der Angst und Nervosität kommen auf , dich mich hilflos und panisch fühlen lassen und ich dadurch denke, dass es eine schlimme Situation sein muss. |
Ich akzeptiere meine Gefühle der Angst, ohne gegen sie anzukämpfen: „Ich fühle mich ängstlich und nervös. Das ist unangenehm, ja - und gleichzeitig okay. Es ist nur ein Gefühl, nichts weiter. Diese Gefühle spiegeln nicht unbedingt die Realität wider. Ich bin nicht in Gefahr.“ |
Schritt 4: Körperempfindungen
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Körperliche Symptome wie Herzrasen und Schwitzen verstärken sich und ich nehme sie noch stärker als Signal wahr, dass etwas nicht stimmt und das gerade etwas schlimmes passiert. |
Ich beobachte meine körperlichen Reaktionen und lasse sie einfach geschehen: „Mein Herz schlägt schneller, mein Körper beginnt zu schwitzen. Das ist gerade so. Dies heißt nichts Schlimmes.“ |
Schritt 5: Reaktion
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Ich gerate in Panik und beginne hektisch hin und her zu gehen, was die Angst weiter verstärkt. |
Ich nehme alles wahr, aber reagiere nicht weiter. Ich atme normal ein und aus. Ich gehe nicht weiter auf die Reaktion meines Körpers ein. |
Schritt 6: Folgen
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Die verstärkten körperlichen Empfindungen und katastrophisierenden Gedanken führen zu einem Panikgefühl. |
Es ist nichts passiert. Neue Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen tauchen auf und die alten ziehen weiter. |
Ergebnis
Ohne Achtsamkeit |
Mit Achtsamkeit |
Aus anfänglichem Herzrasen entwickelt sich ein anhaltendes Angstgefühl. |
So verwandelt sich das anfängliche Herzrasen wieder in einen normalen Herzschlag. |

Das altbekannte Grübeln
Quälendes Grübeln, das sich immer wiederholt und keine Lösung bringt, ist vielen bekannt. Dieses Phänomen wird auch als Rumination bezeichnet. Gedanken werden regelrecht wiedergekäut. Häufig drehen sich diese Gedanken um vergangene Ereignisse oder zukünftige Sorgen. Im Gegensatz zum „gesunden“ Nachdenken liegt der Fokus nicht auf dem Finden von Lösungen und Handlungsstrategien, sondern auf zwanghaften Wiederholungen negativer Erfahrungen oder Erwartungen.
Achtsamkeit kann auch hier sehr wertvoll sein. Statt sich von hartnäckigen Gedanken wie von einem Magneten anziehen zu lassen, betrachtest du sie nur. Du erkennst an, dass Gedanken lediglich Gedanken sind und nicht die Realität widerspiegeln. Auch wenn du das Aufkommen der Gedanken nicht kontrollieren kannst, kannst du üben, wie du mit ihnen umgehst. Hörst du ihnen aktiv zu? Lässt du dich von ihnen einnehmen und nimmst sie für bare Münze? Oder nimmst du einfach ihre Existenz wahr, siehst sie als Gedankenangebot und lenkst deine Aufmerksamkeit zurück auf den gegenwärtigen Moment? Auf diese Weise kannst du den Strudel des Grübelns unterbrechen und die Gedanken ziehen lassen.
Grübeln kann jedoch auch Überhand nehmen und ein Anzeichen für eine psychische Erkrankung sein. Falls Grübeln einen zu sehr einnimmt, sollte man professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen.


Es ist wichtig, den passenden Tipp für dich zu finden. Zudem ist es sinnvoll, regelmäßig zu üben. Suche dir somit etwas aus, was du einfach in deinen Alltag praktizieren kannst. Hier sind einige Vorschläge:
1. Bewusste Ausführung alltäglicher Aktivitäten
- Beispiel: Der morgendliche Kaffee
- Nimm dir Zeit, deinen Kaffee mit allen Sinnen zu genießen, ohne zu werten. Spüre die Wärme der Tasse, rieche das Aroma und schmecke bewusst jeden Schluck.
2. Achtsames Spazierengehen
- Umgebung bewusst wahrnehmen
- Wähle einen Fokus für deinen Spaziergang. Zum Beispiel, konzentriere dich auf die Farben in deiner Umgebung oder die Geräusche, die du hörst.
3. Klassische Meditation
- Geführte Meditationen
- Für den Einstieg sind geführte Meditationen hilfreich. Du findest zahlreiche Ressourcen auf Plattformen wie YouTube.
4. Atemtechniken
- Im Hier und Jetzt sein
- Nutze Atemübungen, um Achtsamkeit zu üben. Atme tief ein und aus und spüre, wie sich deine Bauchdecke hebt und senkt. Dies hilft, dich im Moment zu verankern.
- Versuche länger auszuatmen als einzuatmen. Dies beruhigt den Körper. Z.b. 4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden Atem halten, 8 Sekunden lang ausatmen.